‚Traditionelles‘ Archivieren basiert oft auf der Idee, eine vollständige und lineare Geschichte zu bewahren, doch dieses Konzept ist fraglich. Ein paranoider Modus des Archivierens geht davon aus, dass die Vergangenheit voller Fehler ist, die korrigiert werden müssen, und strebt eine perfekte Rekonstruktion der Geschichte an. Machtstrukturen, die das Archiv durchdringen, machen viele Geschichten unmöglich zu erzählen. Anstatt zu versuchen, jede Lücke zu schließen und eine einzige singuläre Erzählung zu schaffen, die unterdrückenden Ideologien dient, sollten wir Geschichte als einen komplexen, vielschichtigen Raum betrachten, der mit sich überschneidenden Geschichten und Perspektiven gefüllt ist. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es uns, Abwesenheiten anzuerkennen und die Vielschichtigkeit und Pluralität von Geschichte(n) – microhistories zu umarmen.
Bei den Foto- und Videomaterialien, die sich in diesem Ausstellungsraum befinden, habe ich mich mit mehreren Aspekten auseinandersetzen wollen. Einerseits wollte ich versuchen die Spuren von Helbas Bewegungsmaterial zu verkörpern, die ich in Presseartikeln – aus Zeitschriften – finden konnte. In meinen Recherchen zu Helba fiel mir auf, dass in Rezensionen und Künstler*innenportraits immer sehr ähnlich über sie geschrieben wurde; eigentlich bekommen die Leser*innen immer die selben Informationen vermittelt und erfahren nichts Neues über Helba. Das Wiederholen als Element rückte somit in den Fokus. Helba tritt immer wieder in ähnlicher Form auf. Unterstützt wurde diese Beobachtung durch das Medium der Zeitschrift, mit dem ich mich für das Forschungsprojekt auseinandersetzte; die Zeitschrift die nicht nur in ähnlicher Auflage in regelmäßig Zeitabständen erscheint, sondern selbst durch den Druck multipliziert wird und zirkuliert.
Bei den Videos versuchte ich eine Art Stopmotion-Technik, die nicht nur das Lückenhafte sichtbar machen sollte, sondern auch an das Durchblättern von Zeitschriften erinnert. Bei den stillen Bildern habe ich mich für Collagetechniken entschieden. Collage ist eine Methode, bei der verschiedene Materialien wie Texte, Bilder und Muster aus Zeitschriften, Zeitungen oder Fotos ausgeschnitten und auf einer Unterlage arrangiert werden. Diese Methode ermöglicht es, visuelle Geschichten neu zu erzählen, indem sie unterschiedliche Stile und Ideen miteinander verbindet.
Ich möchte einen Gedanken von André Lepecki anführen, der Tanz-Reenactments als exemplarische Gesten radikaler Gastfreundschaft im Kontext wieder auflebender ausschließender Politik sieht. Ich zitiere aus The Body as Archive von 2016:
“Reenactments are about letting the stranger enter. Unconditionally. As singularity.”
(Lepecki, André: Singularities. Dance in the Age of Performance (London/New York: Routledge, 2016), S. 11)
Ein weiterer Gedanke von Rebecca Schneider:
”Entering, or reenacting, an event or a set of acts (acts of art or acts of war) from a critical direction, a different temporal angle, may be […] an act of survival, of keeping alive as passing on“.
(Schneider, Rebecca: Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment (London: Routledge, 2011), S. 7)
Reenactment-Strategien ermöglichen uns einen kritischen und transformativen Blickwinkel und erzählen Geschichten, die zeitliche und körperliche Grenzen überschreiten. In Anspielung auf Julia Wehren beziehen sich die Spuren, die wir in den Archiven finden – materielle Überreste – unweigerlich auf den Körper. (1) Der Körper, verstanden als archivales Werkzeug, kann laut Schneider Geschichte durch physische Handlungen speichern und übermitteln. Reenactment und Verkörperung spielen entscheidende Rollen dabei, die Vergangenheit wieder gegenwärtig zu machen. Anstatt ausschließlich auf Dokumente zu vertrauen, wird der Körper mit seinen Bewegungen und Gesten zu einem lebendigen, atmenden Archiv, das in der Lage ist, historisches Wissen zu transportieren.
Zusammenfassend hoffe ich, dass durch das Verständnis der lebendigen Verbindung von Körpern, Bewegung und archivarischen Praktiken die Strategien des Reenactments – Reenactment als Methode – auch in den theoretischen Tanzstudien stärker etablieren werden können, als ein Werkzeug, um Theorie und Praxis zu verbinden.
(1) (Wehren, Julia: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis, Bielefeld: transcript, 2016).