Isabell Weigner: Arbeiten zu Kurt Jooss in den DdMDA

Isabell Weigner, Absolventin des Bachelorstudiengangs Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg, hat sich im Zuge ihres Praktikums in den Derra de Moroda Dance Archives künstlerisch-forschend mit der Korrespondenz zwischen Friderica Derra de Moroda und Kurt Jooss auseinandergesetzt. 

Korrespondenzen zwischen Friderica Derra de Moroda und Kurt Jooss

In den Derra de Moroda Dance Archives der Universität Salzburg befindet sich eine Vielzahl an Korrespondenzen, die vom schriftlichen Austausch Friderica Derra de Morodas mit der internationalen Tanz-Gemeinschaft zeugen. Ihr Briefwechsel gewährt Einblicke in vergangene Kommunikationen und stellt somit eine wichtige historische Quelle für wissenschaftliche Forschungen dar. Neben dem Geschriebenen, das die persönliche Beziehung der Korrespondierenden zueinander offenlegt, haben auch die Form und Sprache der Briefe Potential etwas über den/die Verfasser/in preis zu geben.
Der archivierte Schriftverkehr zwischen Friderica Derra de Moroda und Kurt Jooss beginnt im Sommer 1933. Anlässlich eines Gastspiels seiner Kompanie hielt sich Jooss in England auf, wo ihn Derra für einen Beitrag in der Dancing Times interviewte. In den nachfolgenden Jahren entwickelte sich eine rege Korrespondenz, aus der sich ein freundschaftliches Verhältnis der beiden ablesen lässt. Während anfangs auf Deutsch kommuniziert wurde, sind Schreiben nach Jooss’ Emigration nach Großbritannien oftmals auch in englischer Sprache formuliert.

Die Briefe bekunden unter anderem Derras unterschiedliche Hilfestellungen an Jooss. Neben der Veröffentlichung mehrerer Artikel in der Dancing Times, die zur internationalen Etablierung seiner Tanztruppe sowie der Jooss-Leeder School auf dem Gelände von Dartington Hall beitrugen, empfahl sie auch junge talentierte Schüler/innen an ihn weiter (Siehe dazu Brief von Friderica Derra de Moroda an Kurt Jooss am 21.03.1936). Außerdem teilten Derra und Jooss ein Interesse an antiquarischen Büchern. Derras eigene Sammlertätigkeit, ihr enormes historisches Fachwissen sowie ihre gute Vernetzung machten sie zu einer idealen Vermittlerin von tanzspezifischer Literatur für Jooss’ Bibliothek. Seinen Dank über ein von Enrico Cecchetti verfasstes Werk gibt er in einem Brief an Derra datiert auf den 22.08.1933 wie folgt Ausdruck:

 

Mit ganz schlechtem Gewissen schreibe ich Ihnen heute, weil ich mich noch nicht für das schöne Cecchetti-Buch bedankt habe, in dem ich in Neuhaus mit grossem [sic] Interesse gearbeitet habe. Es ist wirklich eine sehr schöne und gut gemachte Übersicht über alles Wichtige, und ich hätte sehr gerne das ganze übrige Material auch gehabt. Ist es Ihnen deshalb vielleicht möglich, mir liebenswürdigerweise auch das 2. Buch über das Allegro zu besorgen […]. (Brief von Kurt Jooss an Friderica Derra de Moroda am 22.08.1933)

 

Die Technik, wie Cecchetti sie lehrte, wurde von Jooss zwar nicht in seinem Unterricht übernommen, dürfte ihm wohl aber als geistige Anregung bei der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Bewegungsvokabular des klassischen Balletts gedient haben.
Dabei war das Augenmerk nicht ausschließlich auf tanzmethodische Literatur beschränkt. In einem Schreiben vom 04.07.1935 berichtet Derra:


Ich war heute Nachmittag bei Harrods und ging an einem Büchergeschäft vorbei welches aufgiebt [sic] und fand einige Prachtwerke über Kostüm. Wenn Sie Etwas [sic] für die Bibliothek brauchen müssen Sie diese Bücher kaufen. (Brief von Friderica Derra de Moroda an Kurt Jooss am 04.07.1935)


Leider war es Jooss aufgrund begrenzter finanzieller Mittel nicht immer beschieden Derras Funde an „Prachtwerken“ auch tatsächlich zu erwerben. (Siehe dazu Antwortschreiben von Kurt Jooss an Friderica Derra de Moroda am 09.07.1935)
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 endete der intensive Briefwechsel zwischen den beiden. Die Korrespondenzen zwischen Derra und Jooss sind stumme Artefakte, die doch viel erzählen, indem sie einen einzigartigen Einblick in den schriftlichen Austausch zweier herausragender Persönlichkeiten des Tanzgeschehens im 20. Jahrhundert geben.

Im Archiv Verborgenes durch künstlerische Forschung sinnlich erfahrbar machen

Archive sind Aufbewahrungsorte von selektierten Artefakten und Informationen. Durch eine Untersuchung der Materialien im universitären Kontext können wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die dann üblicherweise schriftlich festgehalten beziehungsweise als Text publiziert werden. Dabei ist das Wirkungsfeld der diskursiv generierten Ergebnisse oftmals auf einen kleinen Fachkreis begrenzt. Philipp Messner merkt jedoch an, dass seit dem sogenannten “archival turn” in den Kulturwissenschaften während der 1990er Jahre ein verstärktes Hinterfragen der Organisation und Überlieferung von Wissen zu beobachten ist. (1)
Eine Möglichkeit um “herkömmliche” methodische Arbeitsweisen aufzubrechen, ist ein künstlerisch forschender Umgang mit Archivalien. Henk Borgdorff sieht artistic research als “material thinking” (2) und nennt als ein wesentliches Kriterium die
“Artikulation von nicht-propositionalem Wissen und Erfahrung, die in Kunstwerken und kreativen Prozessen eingebettet sind”. (3) Demgemäß können explorative Praktiken des ergebnisoffenen Experimentierens zu einem erweiterten Spektrum der
Wissensproduktion sowie der Vermittlungswege beitragen.

 

In einem Artistic-Research-Projekt habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie Archivforschung für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Während meines Praktikums in den Derra de Moroda Dance Archives der Paris Lodron
Universität Salzburg fand eine intensive Auseinandersetzung mit der Korrespondenz zwischen Kurt Jooss und Friderica Derra de Moroda statt. Zwei Ordner voller Briefe verfasst im Zeitraum zwischen 1933 und 1937 sind stumme Zeugen ihres Austausches und geben ungefilterte Einblicke in vergangene Lebenssituationen.

Mein Anliegen war es, die gewonnenen Einsichten in Jooss‘ persönliche Gefühls- und Gedankenwelt auch mit anderen zu teilen, um so eventuell Denkanstöße für neue Forschungsperspektiven anzuregen. Angespornt durch meine Tätigkeit als Tänzerin habe ich einen Zugang angestrebt, der die untersuchten Archiv-Materialien, wie die bereits erwähnten Korrespondenzen, aber auch Szenenfotos aus Der Grüne Tisch von 1932 sowie den Labanotation Score nicht text- oder sprachbasiert vermittelt, sondern nonverbal und intuitiv erfahrbar macht. Daraus ergab sich das Konzept eines biografischen Handlungsballetts über Jooss. Neben der tänzerischen Verkörperung seiner Lebensgeschichte, die vorerst nur skizzenhaft ausgearbeitet wurde, lag mein Fokus auf der dreidimensionalen Umsetzung eines Bühnenbildes.

Mein Bühnenbildentwurf zu einem biographischen Ballett über Kurt Jooss. Als Arbeitsgrundlage diente eine künstlerisch forschende Auseinandersetzung mit Archivalien aus den Derra de Moroda Dance Archives.

Als initialer Impuls für räumliche Visualisierungen diente ein Satz aus einem Schreiben von Jooss an Derra am 15.10.1937: “I am still living and not drowned in the ocean.” (4) Die plastische Realisation dieser schriftlichen Äußerung war ein Brief in Form einer Welle. Das Meer spielte in mehrfacher Hinsicht eine Rolle in Jooss’ Leben. Zum einen überquerte er 1933 den Ärmelkanal um nach Großbritannien zu emigrieren, da er sich geweigert hatte mit den Nationalsozialisten in Deutschland zu kooperieren. Zum anderen verbrachte Jooss viel Zeit an Bord von Schiffen auf hoher See bei Tourneen mit seiner Kompanie in die USA, die schließlich seinen internationalen Erfolg begründeten.

 

Ein weiteres Gestaltungsmittel ist die Projektion von Labanotation-Zeichen auf den
Boden und die Bühnenrückwand entlang des “action strokes”, den ich in diesem Fall
als Lebenslinie umgedeutet habe. Ann Hutchinson Guest beschreibt die grundlegende Funktion des “action stroke” als Indikator von “movement of some kind”. (5) 

 

Üblicherweise sind damit Tanzbewegungen gemeint. In meiner Herangehensweise wird durch die Einblendung spezifischer Symbole stattdessen das szenische Geschehen kommentiert. Exemplarisch sei hier eine Zeichenkombination genannt, die
verbalisiert “keinen Bodenkontakt mit den Füßen” bedeutet, jedoch im Kontext des Narratives als Versinnbildlichung von sozio-kultureller Entwurzelung gelesen werden kann, wenn es beispielsweise um Jooss’ Emigration geht. Der strukturelle Aufbau des Stücks sieht eine Gliederung in vier Bilder vor, die jeweils einen Lebensabschnitt thematisieren. Mit fortschreitendem Verlauf der Handlung kommen immer mehr Masken zum Vorschein und repräsentieren die unterschiedlichen Facetten von Jooss’ Persönlichkeit. Außerdem sind die herabhängenden Masken eine Referenz zu seinem bekanntesten Werk Der Grüne Tisch.

 

 

Die beschriebenen assoziativ geprägten Visualisierungen sind eine Möglichkeit kreativ mit Archivgut umzugehen. Der Bühnenbildentwurf per se generiert noch kein originäres Wissen. Doch der intermediale (6) Transferprozess kann als ein künstlerisch forschender Ansatz verstanden werden, der durch ästhetisierte Übersetzungen einerseits als Analysekategorie fungiert, die neue gedankliche Konstellationen erzeugt und andererseits zur Vermittlung von Inhalten im Sinn eines erweiterten Erkenntnisbegriffs beiträgt. Jens Badura sieht künstlerisches Forschen als eine Praxis der Erkenntnisgewinnung, die komplementär zu rational-begrifflicher Argumentation operiert. (7) Damit sind Wege der Einsicht und des Erfassens gemeint, die auf einer perzeptiven Wahrnehmungsverarbeitung beruhen. Laut Badura sind die Dichotomien diskursiv versus intuitiv respektive rational versus sinnlich nicht als konträre Entgegensetzung, sondern als sich ergänzende Formen der Wissensproduktion zu denken. (8)

Archive sind Orte des Verwahrens und bergen damit die Gefahr des Vergessens. Dem kann meiner Ansicht nach entgegengewirkt werden, wenn neben der Konservierung von Archivalien zusätzlich Maßnahmen der “Wiederbelebung” und infolgedessen der Erinnerung angestrebt werden. Ein mögliches Verfahren ist die künstlerisch forschende Auseinandersetzung, die wie Rolf Wolfensberger feststellt “lebensweltliche Phänomene zwischen den Zeilen der diskursiven Überlieferung zu dokumentieren und zu übersetzen” (9) versucht. Die sprach- und textbasierte Episteme gilt es anhand von intermedialen Transferprozessen um sinnliche Erkenntnisse zu erweitern. Ich denke, dass sich dafür insbesondere nonverbale Darstellungsweisen, wie etwa Tanz oder plastische Visualisierungen in einem Bühnenbild eignen, die Sprachbarrieren überwinden und folglich Archiv-Forschung für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich machen. 

 

(1) Vgl. Messner, Philipp: “Das Archivische. Konfigurationen zwischen Kunstdiskurs,
Geschichtswissenschaft und Verwaltungspraxis”; in: Gilbert Coutaz, Gaby Knoch-Mund, Ulrich Reimer (Hrsg.), Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis; Baden: hier + jetzt, 2014, S. 283–303, hier S. 283. 

(2) Borgdorff, Henk: “Wo stehen wir in der künstlerischen Forschung?”; in: Janet Ritterman, Gerald Bast, Jürgen Mittelstraβ (Hrsg.), Kunst und Forschung. Art and research. Können Künstler Forscher sein? Can artists be researchers?; Wien: Springer, 2011, S. 29–79, hier S. 48.
(3) Ebd.

(4) Jooss, Kurt: Brief an Friderica Derra de Moroda am 15.10.1937; Derra de Moroda Dance Archives.

(5)  Hutchinson Guest, Ann: Labanotation. The System of Analyzing and Recording Movement; New
York: Routledge, 2005, S. 17.

(6) Der Begriff intermedial wird hier im Sinne von Jens Schröters Auffassung der transformationalen Intermedialität verwendet. Das heißt, ein Medium verweist auf ein anderes und kann dadurch das Repräsentierte kommentieren. Siehe dazu Schröter, Jens: “Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffes”; in: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 7/2, 1998, S. 129–154, [insbesondere S. 144].

(7) Vgl. Badura, Jens: “Erkenntnis (sinnliche)”; in: Jens Badura et al. (Hrsg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch; Zürich: Diaphanes, 2015, S. 43–48, hier S. 46.

(8) Ebda.

(9)  Wolfensberger, Rolf: “Archiv”; in: Jens Badura et al. (Hrsg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch; Zürich: Diaphanes, 2015, S. 285–288, hier S. 285.

Archivbestand zu Kurt Jooss

Bücher:

– DdM 4030 Coton, A. V.: The New Ballet. Kurt Jooss and His Work; London: Dobson, 1946.

– DdM 9203 Markard, Anna und Hermann (Hrsg.): Jooss; Köln: Ballett-Bühnen-Verlag Garske, 1985.

– DdM 9699 Partsch-Bergsohn, Isa: Modern Dance in Germany and the United States. Crosscurrents and Influences; Chur: Harwood, 1994.

– DdM 9808 Walther, Suzanne: Dance of Death. Kurt Jooss and the Weimar Years; Chur: Harwood Academic Publishers, 1994.

– DdM 9894 Dahms, Sibylle und Schroedter, Stephanie (Hrsg.): Der Tanz – ein Leben. In Memoriam Friderica Derra de Moroda. Festschrift; Salzburg: Selke, 1997.

– DdM 10069 Stöckemann, Patricia: Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater; München: Kieser, 2001.

– DdM 10236 Hutchinson Guest, Ann (Hrsg.): The Green Table. A Dance of Death in Eight Scenes; London: Routledge, 2003.

– DdM 10739 Partsch-Bergsohn, Isa und Bergsohn, Harold: The Makers of Modern Dance in Germany. Rudolf Laban, Mary Wigman, Kurt Jooss; Hightstown: Princeton Book Company, 2003.

 

 Zeitschriften:

Dancing Times July 1933, S. 240–242.

Dancing Times July 1933, S. 327–328.

Dancing Times July 1933, S. 453–455.

Dancing Times May 1935, S. 140–142.

 

Korrespondenz: siehe weiße Ordner

 

Fotografien:

DdM f B 019 (Seven Heroes)

DdM f B 020 (Der Grüne Tisch)

DdM f B 021 (Der Grüne Tisch)

DdM f B 022 (Chronica)

DdM f B 023 (The Prodigal Son)

DdM f B 024 (The Prodigal Son)

DdM f B 025 (The Prodigal Son) -> Jooss selbst ist abgebildet

DdM f B 026 (A Spring Tale)

DdM f B 027 (A Spring Tale)

DdM f B 028 (Pavane)

DdM f B 029 (There is something in the air)

DdM f B 072 (The Prodigal Son)

 

DVD:

 

DdM 176 The Makers of Modern Dance in Germany. Rudolf Laban, Mary Wigman, Kurt Jooss.