Zu den Raritäten der Derra de Moroda Dance Archives zählt der Textdruck eines Ballet der Riesen[1], das am 25. Februar 1664 anlässlich des Geburtstags von Herzog Christian Ludwig von Braunschweig-Lüneburg (1622–1665) an der Lüneburger Ritterakademie aufgeführt wurde. Im Mittelpunkt steht die mythologische Erzählung vom Sturz der Giganten, der im Titel apostrophierten „Riesen“, die versuchen, den Sitz der Götter mit Waffengewalt zu erstürmen und durch Jupiter vernichtet werden.
In seinem Text verknüpft der Dichter und Pädagoge Hermann Nottelmann (1626–1674) die mythologische Fabel mit dem aktuellen politischen Geschehen der Gegenwart des Jahres 1664. Kriegerische Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs hatten zum Türkenkrieg von 1663/64 geführt, in den auch das Fürstentum Lüneburg involviert war. Im Ballet der Riesen dient die Erzählung vom Gigantensturz (auch) als Parabel für „der Türcken unverschampte Bedrohungen unter der masque der Himmelstürmenden Giganten“[2].
Auf der Darstellungsebene konnte die Aufführung trotz der vermutlich begrenzten theaterpraktischen Möglichkeiten vor Ort mit teils spektakulären Bühneneffekten aufwarten: Zu Beginn fliegt Merkur „mitten durch das Theatrum“[3], nach seinem Sieg über die Riesen präsentiert sich Jupiter, dargestellt vom Fechtmeister Nicolas de Villelongue, „auff einem Adler herabfahrend“[4].
Die Inszenierung war maßgeblich durch den institutionellen Kontext der Lüneburger Ritterakademie geprägt, in der Heranwachsende zumeist aristokratischer Herkunft unterrichtet wurden, um sie auf Berufsfelder im Staats- und Militärdienst vorzubereiten. Auf dem Lehrplan standen unter anderem auch standesgemäße bewegungsorientierte Praktiken wie Reiten, Fechten und Tanzen. Welche Fertigkeiten die Schüler dabei erworben hatten, konnten sie in jährlichen Schüleraufführungen unter Beweis stellen.
Das Ballet der Riesen erweist sich als vielschichtiges Spektakel: ein Fest zu Ehren des Herzogs, ein am höfischen Ballet de cour orientiertes Spektakel mit aktuellen zeitgeschichtlichen Bezügen, eine Schüleraufführung im städtischen Ambiente der Ritterakademie – in jedem Fall ein faszinierendes Beispiel für die facettenreiche Tanz- und Festkultur des norddeutschen Raums im 17. Jahrhundert.
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Das Ballet der Riesen war Thema eines Vortrags von Irene Brandenburg im Rahmen der Online-Konferenz „Schauplatz der Dantzenden“: Tanz in Deutschland 1500–1900, veranstaltet von Dance & History, 18. und 19. Januar 2025. Ein Video des Vortrags steht bis Mitte Februar über Youtube zur Verfügung.
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[1] DdM 5800. Siehe https://ubsearch.sbg.ac.at/permalink/f/16hc907/USB_alma21105250060003341.
[2] BALLET Der RIESEN Welches am hoch=erfreulichen Geburts=Tage Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Christian Ludwigs/ Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg/ etc. In S. Fürstl. D. Ritter=Collegio zu Lüneburg/ von dero daselbst studirenden Adlichen Jugend/ in Anschauung vieler fürnehmen Personen/ zu schüldigster Bezeugung unterthänigster Pflicht/ gehorsamst auffgeführet worden; […], Lüneburg: Sternen 1664, o.S.
[3] Ebd., o.S.
[4] Ebd., o.S.